SDBP #141: Surprise, Aggression, Speed wirklich umsetzbar?

Willkommen zurück in unserer kleinen Welt des Self-Defense-Box-Podcasts! In unserer neuesten Folge haben wir uns so richtig ins Getümmel geworfen und über „Surprise – Aggression – Speed“ gesprochen – ein Prinzip, das in Combatives-Kreisen wahre Wunder verspricht, in der Umsetzung aber alles andere als simpel ist. Dabei sind wir schnell auf heiße Themen wie Verrohung, echte Gewaltkontexte und die Frage gestoßen, wie viel Kampfsport- oder Kampfkunsterfahrung man wirklich braucht, um sich effektiv zu verteidigen. Natürlich haben wir auch unsere eigenen Lehr- und Lernerfahrungen als Trainer miteinfließen lassen.

Klingt spannend? Genau darum geht’s in unserer ausführlichen Zusammenfassung.

 

Wir möchten euch zeigen, welche Chancen, aber auch welche Herausforderungen hinter dem Ansatz „Surprise – Aggression – Speed“ stecken, warum es für Einsteiger oft so schwer ist, ihre Hemmungen zu überwinden, und wie man sich gesund mit dem Thema Gewalt auseinandersetzen kann, ohne komplett abzustumpfen. Freut euch auf jede Menge Praxisbeispiele, ehrliche Diskussionen und einen kritischen Blick darauf, was wir Trainer wirklich in unseren Kursen vermitteln sollten.

Grundidee von „Surprise – Aggression – Speed“

Kommen wir zum Star der heutigen Folge: „Surprise – Aggression – Speed“ (oft einfach als SAS abgekürzt). Dieses Prinzip taucht in vielen Combatives- und auch Kraft-Maga-Konzepten auf und wird in der zivilen Selbstverteidigung als eine Art „Totschlag-Argument“ genutzt, sobald jemand fragt: „Wie soll ich denn als Anfänger gegen einen stärkeren Gegner klarkommen?“

Die Antwort der Combatives-Szene klingt simpel: Überraschung, Aggression und Geschwindigkeit. Wenn der Angreifer nicht damit rechnet, dass wir uns gegen ihn wehren, können wir ihn im günstigsten Moment mit voller Wucht und Schnelligkeit erwischen und uns so den entscheidenden Vorteil verschaffen. Der klassische Ratschlag lautet: „Triff zuerst und triff hart.“ Im Idealfall eröffnet das uns ein Zeitfenster zur Flucht.

Die Tücke in der Umsetzung

So bestechend logisch dieses Prinzip auch klingen mag – wir haben uns gefragt, ob es wirklich so leicht abrufbar ist. Vor allem Anfängerinnen und Anfänger, die überhaupt keine Kampferfahrung haben, stehen vor dem Problem, dass ihr Körper und ihr Kopf häufig blockieren, sobald Gewalt real wird. Wir kennen alle diese innere Stimme: „Echt jetzt? Soll ich wirklich jemanden schlagen?“

Hinzu kommt das Thema Timing und Distanzgefühl. Wer diese Dinge niemals im Sparring geübt hat, kann im Ernstfall selten aus dem Stand explosiv und präzise agieren. Deshalb sind wir der Meinung, dass das SAS-Prinzip zwar cool klingt, aber ohne solides Fundament schlicht oft nicht greift. Ein paar lockere Schlagdrills gegen Pratzen ersetzen kein intensives Sparring, in dem wir lernen, wirklich zu treffen, gegnerischen Schlägen auszuweichen oder schmerzhafte Treffer wegzustecken.

Sparring und Kampfsport: Der Schlüssel zum Erfolg?

Wir kommen also nicht umhin, uns die Frage zu stellen, ob man nicht zunächst ganz „klassisch“ im Kampfsport- oder Kampfkunsttraining (z.B. Boxen, Kickboxen, Muay Thai, MMA, Grappling) lernen muss, wie man wirklich schlägt, tritt, wirft oder festhält. Dort entwickelt man ein Gespür für Distanz, Timing und den Impact, den ein Treffer haben kann.

Erst wenn dieses Fundament halbwegs steht, kann man im Ernstfall sagen: „Alles klar, ich weiß, was eine rechte Gerade anrichtet. Jetzt brauche ich bloß noch genug Aggression und Überraschung, um den Angreifer zu erwischen.“ Genau das ist unser Diskussionspunkt: Viele Combatives-Systeme oder Wochenendseminare im Bereich der Selbstverteidigung vermitteln zwar die Idee von Surprise – Aggression – Speed, aber nicht den notwendigen Unterbau, um sie realistisch umzusetzen.

Verrohung vs. gesunde Abhärtung

An dieser Stelle tauchte im Gespräch ein weiteres zentrales Thema auf: Machen uns solche Konzepte „verroht“? Bauen wir damit eine Lust an Gewalt auf, die wir eigentlich nicht haben sollten? Wir haben unter anderem über den Autor und Kampfsportler Michel Ruge gesprochen, der gerne das Wort „Verrohung“ benutzt, um zu verdeutlichen, dass es nicht so leicht ist, „eiskalt“ zuzuschlagen.

Ein Argument besagt, dass wir uns innerlich abstumpfen müssen, um im Extremfall tatsächlich mit voller Kraft auf Nase, Hals oder empfindliche Stellen zu schlagen. Eine andere Sichtweise wiederum sagt, dass es keine Verrohung, sondern lediglich eine dringend nötige Fähigkeit ist. Wenn uns jemand angreift, brauchen wir einen gewissen Härtegrad und dürfen nicht zaudern.

Wir selbst glauben, dass hier die Intention zählt. Haben wir Spaß daran, anderen weh zu tun, oder ist uns klar, dass wir nur im äußersten Notfall angreifen? Sobald wir aus einem reinen Verteidigungsimpuls handeln und nicht wahllos Gewalt provozieren, ist das in unseren Augen keine „Verrohung“. Es ist eher ein realistisches Bewusstsein: Wenn es sein muss, können und dürfen wir uns wehren.

Echte Straßenkonflikte: Hemmungen, Reaktionen, Gefahren

Im Podcast haben wir auch einige Beispiele genannt, wo uns oder Bekannten im Alltag Gewalt widerfahren ist. Ob beim nächtlichen Spaziergang, an einer Bushaltestelle oder beim Gassigehen mit dem Hund: Plötzlich taucht jemand auf, der Stress sucht. Wir haben von Fällen erzählt, in denen Leute grundlos attackiert oder bedrängt wurden und rein instinktiv reagierten.

Gerade in solchen Momenten zeigt sich, wie gut oder schlecht unsere Trainingskonzepte funktionieren. Wer vorher in aller Ruhe Combatives-Techniken „im Trockenen“ geübt hat, ist oft schockiert, wenn der erste Faustschlag real auftrifft. Da sehen wir wieder, wie wichtig es ist, in Sparrings- oder Szenario-Übungen zumindest einen Vorgeschmack von echter Gewalt zu haben – auch wenn wir natürlich kein „richtiges Straßen-Level“ simulieren können.

Nicht jeder Angreifer lässt sich von Überraschung täuschen

Während manche Angreifer leicht einzuschüchtern sind, sobald wir Gegenwehr leisten, gibt es auch den Typ, der selbst sehr kampferfahren ist oder schlicht keine Angst zeigt. Genau hier scheitern rein theoretische Combatives-Techniken oft. Wenn jemand den Überraschungsmoment antizipiert oder selbst blitzschnell reagiert, können wir nicht mehr so einfach dominieren.

Gerade junge, aggressive Typen, die selbst Kampfsporterfahrung haben, lassen sich von einer ungeübten Person selten mit einem einzelnen Schlag ausschalten. Deshalb halten wir es für essenziell, unseren Schülern zu vermitteln: Ja, Surprise – Aggression – Speed kann funktionieren, ist aber kein 100-prozentiges Ass im Ärmel. Setzt es nur ein, wenn ihr einigermaßen sicher seid, dass ihr treffen könnt, und rechnet immer damit, dass der Gegner kontert.

Mario und seine Drei-Kategorien-Theorie

Wir haben auch Marios Einteilung der Aggressoren angesprochen, die er in „Idioten“, „Arschlöcher“ und „Bastarde“ unterscheidet. Diese grobe Klassifizierung mag ein wenig simpel wirken, hilft aber dabei, in Sekundenbruchteilen abzuschätzen, mit wem man es zu tun hat.

  • Idiot: Meist ein Proll, der nur rumnervt, aber nicht unbedingt scharf aufs Kämpfen ist.

  • Arschloch: Ernsthafter und aggressiver, aber eventuell noch kontrollierbar über gutes Auftreten oder klare Kante.

  • Bastard: Ein skrupelloser Typ, der keinen Spaß versteht und mit krasser Härte vorgeht.

Natürlich lässt sich das nicht immer so schnell entscheiden, aber als mentale Schublade ist es nützlich. Für uns bedeutet das: Beim „Idioten“ reicht vielleicht eine klare Ansage. Beim „Arschloch“ könnte man noch mit Drohkulisse und Körpersprache was erreichen. Beim „Bastard“ jedoch sollten wir keine Sekunde zögern, das SAS-Prinzip oder andere harte Maßnahmen zu ergreifen, weil sonst wir selbst schwer verletzt werden.

Frauen, sexualisierte Gewalt und die Rolle von „Surprise“

Besonders eindringlich haben wir auch den Punkt besprochen, dass „Surprise – Aggression – Speed“ für Frauen – gerade in Fällen sexualisierter Gewalt – durchaus ein legitimes Mittel sein kann. Wenn ein Täter davon ausgeht, dass sein Opfer sich nicht wehrt, kann ein unerwarteter Schockangriff an die empfindlichsten Stellen (Hals, Genitalien, Augen) ihn aus dem Konzept bringen. Mehrere Beispiele aus der Praxis zeigen, dass Täter oft gar nicht mit einem solchen Gegenangriff rechnen.

Allerdings gilt auch hier: Ohne die nötige Entschlossenheit und etwas technisches Know-how läuft man Gefahr, den Mann nur kurz zu reizen und die Situation noch zu verschärfen. Deswegen ist uns wichtig zu betonen, dass ein gezieltes Training – auch mentaler Art – unverzichtbar ist, um sich im Ernstfall nicht zu blockieren.

Was wir Trainern raten: Ehrlichkeit, systematischer Aufbau und keine Wunder versprechen

Unsere Botschaft an alle Trainerinnen und Trainer sowie an die Teilnehmer lautet: Seid ehrlich. Surprise – Aggression – Speed ist keine universelle Wunderlösung, die jedes Mal perfekt funktioniert. Wenn wir in unseren Kursen aber transparent mit den Stärken und Schwächen dieses Konzepts umgehen, kann es für viele Leute sehr wertvoll sein.

Unser Ansatz wäre folgender:

  1. Solide Basics: Zuerst sauberes Schlagen, Treten, Clinchen und Grundlagen im Bodenkampf lehren.

  2. Kontrollierte Sparringsformen: Schrittweise den Druck erhöhen, damit man ein Gefühl für Distanz, Timing und Trefferwirkung bekommt.

  3. Richtige Szenarien: Anschließend gezielte Szenario-Übungen, in denen der „Surprise“-Moment geübt wird. Beispielsweise Ablenkung, Gesprächsführung und dann ein plötzlicher Schlag oder Tritt.

  4. Kommunikation der Grenzen: Klarstellen, dass keine Technik unfehlbar ist. Jeder Kampf ist ein Risiko.

  5. Mindset entwickeln: Besonders das Thema „Entschlossenheit“ ansprechen. Denn wenn wir die Technik zwar kennen, aber im Ernstfall innerlich zögern, hilft auch der beste Überraschungsangriff nichts.

Das Thema Verrohung: Klare Trennung von Sport und Alltag

Immer wieder fällt der Begriff „Verrohung“, wenn es darum geht, realitätsnahe Gewaltfähigkeit zu trainieren. Wir haben im Podcast betont, dass wir sehr wohl eine gewisse Härte brauchen, um uns zu schützen, dies aber nicht heißt, dass wir im Alltag Aggressionen an den Tag legen. Vielmehr geht es darum, in einer Notwehrlage nicht zu erstarren oder sich überwältigen zu lassen.

Sportliches Training, etwa im Boxring, kann helfen, Berührungsängste mit Schlägen und Tritten abzubauen. Trotzdem ist uns wichtig, klarzumachen: Wir trainieren hier Fähigkeiten, die wir hoffentlich nie einsetzen müssen. Nicht weil wir „Pazifisten“ sind, sondern weil wir wissen, dass jede Gewaltsituation schwerwiegende Folgen haben kann – körperlich und juristisch.

Combatives und die Lust an der Kriegsbemalung

In manchen Combatives- oder Kraft-Maga-Gruppen begegnen uns Leute, die geradezu ein bisschen zu sehr auf den „Street“-Aspekt abfahren. Sie tragen Tarnhosen, feiern militärische Rituale und brüsten sich damit, wie hart sie sind. Wir warnen davor, dass das schnell in ein gefährliches Ego-Spiel abrutschen kann. Denn um sich ernsthaft verteidigen zu können, müssen wir Gewalt begreifen, aber nicht verherrlichen.

Die besten Kampfsportler und Kämpfer sind meist gar nicht die, die dauernd rumlaufen und Streit suchen. Echte Profis sind oft relativ ruhig und selbstsicher, weil sie wissen, was sie können – und was auch die möglichen Konsequenzen sind. Wer nur auf sein Ego setzt, läuft Gefahr, sich selbst in dumme Situationen hinein zu manövrieren, um „das Gelernte“ auszuprobieren.

Beispiele aus dem Alltag: Warum Überraschung alleine nicht reicht

Wir haben auch ein paar Anekdoten geteilt, in denen jemand verzweifelt auf das Surprise-Momentum gesetzt hat, es aber nicht geklappt hat, weil der Angreifer geübter war oder die Distanz nicht stimmte. In solchen Fällen hilft eine solide Ausbildung, die unsere Reflexe schult. Surprise – Aggression – Speed bleibt dann ein zusätzliches Element, kein Ersatz für grundlegende kämpferische Fähigkeiten.

Ein klassisches Beispiel: Man steht an der Bushaltestelle, wird angerempelt und will sofort „Vollgas“ geben. Wenn man den Gegner nicht richtig trifft oder der Winkel schlecht ist, war’s das mit der Überraschung. Der andere kontert und es wird unangenehm. Also lieber zuerst lernen, Distanz zu kontrollieren, Schläge sauber anzubringen und die eigene Defensive zu stärken. Erst dann können wir an Explosivität und Aggression feilen.

Mentaltraining: Die entscheidende Komponente

Was wir immer wieder betonen, ist, dass neben der Technik vor allem der Kopf trainiert werden muss. „Surprise – Aggression – Speed“ klingt schön aggressiv, aber wir müssen es schaffen, in einer Gefahrensituation den berühmten Schalter umzulegen. Für Menschen, die friedliebend und zurückhaltend sind, ist das oft ein Riesenschritt. Auch hier helfen Rollenspiele, Stressdrills und Szenarien.

Wir können zum Beispiel Simulationen machen, in denen ein „Angreifer“ verbal Druck aufbaut, uns beleidigt oder in den persönlichen Raum eindringt. Dann können wir ausprobieren, wie sich ein plötzlicher Schlag oder ein lauter Kampfschrei anfühlt. Zwar wird das nie die komplette Realität spiegeln, aber immerhin bereitet es unseren Geist auf den Moment vor, in dem wir aktiv werden müssen.

Grenzen des Konzeptes: Wenn der Gegner trainiert ist

Ein wichtiger Punkt, den wir nicht verschweigen dürfen: Trifft man auf einen Angreifer, der ebenfalls eine Kampfsportausbildung oder Combatives-Kenntnisse hat, wird’s brenzlig. Dann können wir nicht mehr darauf hoffen, den Gegner „mal eben schnell“ zu überraschen. Wer trainiert ist, rechnet eher mit Gegenwehr, hat bessere Reflexe und kann seinerseits aggressiv und schnell agieren.

Für uns bedeutet das: Die „Duell-Situation“ wollen wir im Straßenkontext eigentlich immer vermeiden. Wir raten Leuten eher, die Konfrontation rechtzeitig zu beenden oder gar nicht erst entstehen zu lassen. Doch nicht jeder Konflikt lässt sich vermeiden. Und wenn es dann zur Eskalation kommt, ist reines „SAS“ mitunter zu simpel gedacht. Dann wird es ein richtiges Gerangel oder ein Schlagabtausch, für den wir – wieder einmal – Kampfsporterfahrung brauchen.

Realistisches Training und ehrlicher Umgang mit Gewalt

Unser Resümee zu „Surprise – Aggression – Speed“ ist, dass das Prinzip sehr hilfreich sein kann, wenn es richtig eingebunden wird und wir den Leuten nicht vorgaukeln, es sei die Lösung für alles. Es ist ein Element im großen Werkzeugkasten der Selbstverteidigung. Entscheidend ist, dass wir:

  • Eine solide technische Basis haben, damit wir in Stressmomenten effektiv agieren können.

  • Uns mit der nötigen Intensität und Entschlossenheit beschäftigen, ohne dabei gefühllos oder krampfhaft brutal zu werden.

  • Uns bewusst sind, dass kein Konzept unfehlbar ist und wir immer damit rechnen müssen, dass unser Gegner uns vielleicht überrascht oder kontert.

Daher plädieren wir für ein Training, das sowohl harte Sparringseinheiten, als auch realistische Szenario-Übungen und mentale Vorbereitungen einschließt. Nur so lernen wir, die Stärken und Grenzen von „Surprise – Aggression – Speed“ kennen und anwenden zu können.

Unsere Botschaft an euch

Wir möchten allen, die sich mit Selbstverteidigung oder Kampfsport beschäftigen, ans Herz legen, dass ihr offen und kritisch bleibt. Lasst euch nicht von reißerischen Werbeversprechen täuschen, die behaupten, ein „einziger Griff“ reiche aus, um jeden Angreifer auszuschalten. Genauso möchten wir, dass ihr versteht, dass Härte und Aggression Mittel zum Zweck sein können, ohne gleich euren Charakter zu vergiften.

Wer ernsthaft lernen will, sich selbst oder andere zu schützen, sollte sich bewusst sein, dass es Mühe, Zeit und ein hohes Maß an Selbstreflexion erfordert. Wir selbst leben das in unseren Kursen und versuchen stets, eine Atmosphäre zu schaffen, in der wir die Realität von Gewalt thematisieren, ohne sie zu glorifizieren. „Surprise – Aggression – Speed“ darf dabei gern eine Rolle spielen – nur eben nicht als Dogma, sondern als Teil eines umfassenden Systems.