Die neueste Ausgabe des Selfdefensebox Podcasts nimmt die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) für 2024 unter die Lupe. Um die Zahlen und ihre Bedeutung einzuordnen, ist erneut Oberstaatsanwalt Alex Bayer zu Gast, der schon früher im Podcast wertvolle Einblicke gegeben hat, unter anderem zum Thema Notwehrrecht. Wir bewerten, wie sich die Kriminalität in Deutschland entwickelt.
Die Diskussion begann mit einem Rückblick auf frühere Podcast-Folgen, in denen das Thema Kriminalstatistik bereits angeschnitten wurde. Dabei wurde insbesondere die Problematik der Interpretation von Zahlen in den Jahren nach der Corona-Pandemie hervorgehoben. Die statistischen Erhebungen während der Lockdowns und den damit einhergehenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens zeigten naturgemäß deutlich niedrigere Fallzahlen in bestimmten Deliktsbereichen, beispielsweise bei Kneipenschlägereien oder Taschendiebstählen, da die Gelegenheiten zur Begehung solcher Taten stark reduziert waren. Ein direkter Vergleich dieser Zahlen mit den Jahren nach den Pandemie-bedingten Maßnahmen birgt daher die Gefahr irreführender Schlussfolgerungen.
Alex Bayer betonte in diesem Zusammenhang, dass ein sinnvoller Vergleich der aktuellen Kriminalitätsentwicklung eher mit den Zahlen vor der Corona-Pandemie gezogen werden sollte, um eine realistischere Einschätzung der tatsächlichen Veränderungen zu erhalten.
Ein weiterer wichtiger Aspekt, der in der Diskussion ausführlich behandelt wurde, ist die Natur der polizeilichen Kriminalstatistik selbst. Die PKS erfasst primär die Anzahl der von der Polizei bearbeiteten Fälle und nicht die Anzahl der rechtskräftigen Verurteilungen. Ein erheblicher Teil der polizeilich geführten Ermittlungsverfahren wird eingestellt, sei es mangels Beweisen, aufgrund der Unschuld des Beschuldigten oder aus anderen rechtlichen Gründen. Somit spiegelt die Kriminalstatistik die polizeiliche Tätigkeit wider, aber nicht zwingend die tatsächliche Anzahl der strafrechtlich relevanten und sanktionierten Handlungen.
Zudem wurde die sogenannte Dunkelziffer thematisiert. Nicht alle Straftaten werden bei der Polizei angezeigt. Dies betrifft insbesondere Delikte im häuslichen Umfeld, wie einfache Körperverletzungen, oder Sexualstraftaten, bei denen die Opfer aus Scham oder anderen Gründen von einer Anzeige absehen. Mord hingegen, so die Einschätzung, weist aufgrund der Schwere des Delikts und der damit verbundenen Ermittlungen eine deutlich geringere Dunkelziffer auf.
Gesamtzahl der Straftaten und der Einfluss der Cannabis-Legalisierung
Die Analyse der aktuellen Zahlen für 2024 im Vergleich zu 2023 zeigte zunächst einen Rückgang der Gesamtzahl der Straftaten um 1,7% (2024: 5.837.445 Fälle, 2023: 5.940.667 Fälle). Dieser scheinbare Rückgang ist jedoch maßgeblich auf eine Gesetzesänderung zurückzuführen: die Teillegalisierung von Cannabis im Jahr 2024. Zahlreiche Delikte im Bereich des Betäubungsmittelgesetzes, die 2023 noch strafbar waren, fielen 2024, zumindest ab April, nicht mehr unter Strafe.
Dieser rechtliche Wandel führte zu einem signifikanten Rückgang der Rauschgiftdelikte um 34,0% (-118.796 Fälle). Würde man diesen Effekt herausrechnen, hätte die Gesamtzahl der Straftaten im Vergleich der beiden Jahre sogar einen leichten Anstieg verzeichnet. Somit lässt sich festhalten, dass die Kriminalitätsbelastung in Deutschland insgesamt auf einem ähnlichen Niveau geblieben ist, wenn man die statistische Verzerrung durch die Cannabis-Legalisierung berücksichtigt.
Gewaltkriminalität: Ein differenzierter Blick auf die Entwicklung
Im Kontext der Selbstverteidigung liegt das Hauptaugenmerk naturgemäß auf der Gewaltkriminalität, welche Tötungsdelikte (Mord und Totschlag), Körperverletzungsdelikte (einfache, gefährliche und schwere Körperverletzung) sowie Sexualdelikte umfasst.
Tötungsdelikte (Mord und Totschlag): Der Unterschied zwischen Mord und Totschlag liegt nicht in der vorsätzlichen Tötung selbst, sondern in zusätzlichen Umständen, die einen Mord als besonders verwerflich erscheinen lassen, wie beispielsweise eine besondere Motivation des Täters oder eine besonders grausame Begehungsweise. In diesem Bereich verzeichnet die Statistik einen leichten Zuwachs von 0,9 Prozent (2024: 2.303, 2023: 2.282). Aufgrund der bereits erwähnten geringen Dunkelziffer bei Tötungsdelikten dürften diese Zahlen die Realität relativ gut widerspiegeln.
Körperverletzungsdelikte: Hier wird zwischen einfacher, gefährlicher und schwerer Körperverletzung unterschieden.
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Einfache Körperverletzung: Umfasst alle Handlungen, bei denen jemand mit körperlichen Mitteln (Faustschläge, Ohrfeigen etc.) verletzt wird, ohne dass eine Waffe oder ein gefährliches Werkzeug im Spiel ist und ohne dass die Verletzung lebensbedrohlich ist oder schwere Folgen nach sich zieht. In dieser Kategorie ist ein Anstieg um 1,9 Prozent zu verzeichnen (2024: 437.461, 2023: 429.157).
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Gefährliche und schwere Körperverletzung: Hierzu zählen Körperverletzungen, die mit Waffen, gefährlichen Gegenständen, Gift oder von mehreren Tätern gemeinschaftlich begangen werden oder die lebensgefährdend sind oder schwere körperliche Schäden verursachen. In diesem Bereich zeigt die Statistik einen Anstieg von 2,4 Prozent (2024: 158.177, 2023: 154.541).
Die Gewaltkriminalität insgesamt hat um 1,5% zugenommen (2024: 217.277, 2023: 214.099).
Sexualstraftaten: Die Statistik weist für den Bereich der Vergewaltigung, sexuellen Nötigung und sexuellen Übergriffen im besonders schweren Fall einen deutlichen Anstieg von 9,3 Prozent aus (2024: 13.320, 2023: 12.186, +1.134 Fälle). Alex Bayer betonte, dass dieser Anstieg verschiedene Ursachen haben kann. Zum einen könnte er tatsächlich eine Zunahme derartiger Straftaten widerspiegeln. Zum anderen ist in diesem Deliktsbereich die Dunkelziffer traditionell sehr hoch, sodass ein Anstieg der Anzeigebereitschaft der Opfer ebenfalls zu einem Anstieg der statistisch erfassten Fälle führen kann, ohne dass die tatsächliche Anzahl der Taten im gleichen Maße zugenommen haben muss.
Ein wichtiger Punkt in der Diskussion war die Feststellung, dass Sexualstraftaten in den seltensten Fällen von unbekannten Tätern im öffentlichen Raum verübt werden. Vielmehr ereignen sie sich häufig im Bekanntenkreis oder sogar in partnerschaftlichen Beziehungen. Diese Erkenntnis ist entscheidend für die Bewertung der Sicherheitslage und die Entwicklung präventiver Maßnahmen. Für Personen, die sich in toxischen Beziehungen befinden und häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, liegt die Herausforderung primär darin, aus dieser Situation zu entkommen und professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, anstatt sich primär auf körperliche Selbstverteidigung zu fokussieren. Entsprechende Hilfsangebote und Telefonnummern sollen in den Shownotes des Podcasts zur Verfügung gestellt werden.
Weitere Entwicklungen in der Kriminalstatistik:
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Raubdelikte: Verzeichneten einen Rückgang um 3,7 Prozent (2024: 43.194, 2023: 44.857). Hier wird vermutet, dass die Anzeigebereitschaft aufgrund des oft damit verbundenen Versicherungsfalls relativ hoch ist, was die Aussagekraft der Statistik in diesem Bereich stärkt.
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Straßenkriminalität: Sank um 1,4 Prozent (2024: 1.099.649, 2023: 1.114.817). Dieser Begriff umfasst Straftaten, die im öffentlichen Raum begangen werden und ist keine eigene rechtliche Kategorie, sondern eine statistische Erfassung der Polizei. Die geringe Veränderung deutet auf eine relativ stabile Lage in diesem Bereich hin.
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Wirtschaftskriminalität: Erlebte einen deutlichen Anstieg um 57,6 Prozent (2024: 61.358, 2023: 38.925). Hier wird vermutet, dass Nachholeffekte aufgrund der Komplexität der Fälle und der Zeit, die es braucht, bis sie aufgedeckt werden, eine Rolle spielen könnten. Dieser Bereich ist für das Thema Selbstverteidigung weniger relevant.
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Datenveränderung und Computersabotage sowie Computerbetrug mittels rechtswidrig erlangter Daten von Zahlungskarten: Datenveränderung und Computersabotage stiegen um 8,7% (2.493 Fälle), und Computerbetrug mittels rechtswidrig erlangter Daten von Zahlungskarten stieg um 9,2% (23.601 Fälle in 2024, 21.617 Fälle in 2023).
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Taschendiebstahl: Ging um 1,5 Prozent zurück (2024: 107.720, 2023: 109.314).
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Wohnungseinbruchsdiebstahl: Verzeichnete einen leichten Anstieg um 0,8% (2024: 78.436, 2023: 77.819).
Vergleich mit der Kriminalstatistik aus den Jahren 2015 und 2016:
Die Gesamtzahl der angezeigten Straftaten war in den Jahren 2015 (6.330.649) und 2016 (6.372.526) mit über 6,3 Millionen Fällen deutlich höher als die rund 5,8 Millionen Fälle im Jahr 2024 (5.837.445). Dieser Rückgang ist maßgeblich darauf zurückzuführen, dass die Gesamtzahl der Diebstahldelikte erheblich gesunken ist und es 2024 weniger ausländerrechtliche Verstöße gab. So gab es 2016 487.711 ausländerrechtliche Verstöße, während es 2024 nur 287.339 gab, was einen Unterschied von über 200.000 Fällen ausmacht. Zudem ist die Diebstahlkriminalität insgesamt von 2.373.774 Fällen im Jahr 2016 auf 1.940.033 Fälle im Jahr 2024 zurückgegangen, was einen Rückgang von über 430.000 Fällen bedeutet. Besonders deutlich ist der Rückgang beim Wohnungseinbruchsdiebstahl, der sich von 167.136 Fällen im Jahr 2015 auf 78.436 Fälle im Jahr 2024 verringert hat.
Ein Vergleich der aktuellen Zahlen mit der PKS aus den Jahren 2015 und 2016 zeigte weitere interessante Entwicklungen:
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Die Anzahl der Morde war 2015 (2.116), 2016 (2.418) und 2024 (2.303) in einem ähnlichen Bereich, wobei 2016 einen deutlichen Anstieg gegenüber 2015 verzeichnete, aber 2024 wieder darunter liegt.
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Die gefährliche und schwere Körperverletzung hat seit 2016 (140.033) auf 158.177 Fälle im Jahr 2024 zugenommen.
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Die einfache Körperverletzung ist ebenfalls von 375.541 (2015) bzw. 406.038 (2016) auf 437.461 Fälle (2024) angestiegen.
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Rauschgiftdelikte waren 2015 (282.604) und 2016 (302.594) noch deutlich höher als 2024 (228.104), was maßgeblich auf die veränderte Rechtslage bezüglich Cannabis zurückzuführen ist.
Abschlussgedanken
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die polizeiliche Kriminalstatistik 2024 ein differenziertes Bild der Sicherheitslage in Deutschland zeichnet. Während die Gesamtzahl der Straftaten durch die Cannabis-Legalisierung statistisch gesunken ist, zeigen bestimmte Deliktsbereiche, die für die persönliche Sicherheit relevant sind, wie Gewaltkriminalität und einfache Körperverletzung, einen Anstieg. Der deutliche Anstieg bei den Sexualstraftaten erfordert eine weitere Analyse, um die genauen Ursachen zu ermitteln.
Im internationalen Vergleich bleibt Deutschland ein vergleichsweise sicheres Land (Platz 20 von 163 im Global Peace Index). Dennoch ist jede Straftat eine zu viel, und die beobachteten Anstiege in bestimmten Bereichen sollten ernst genommen werden. Es ist wichtig, die Kriminalstatistik differenziert zu betrachten und die Hintergründe der Veränderungen zu verstehen, um fundierte Schlussfolgerungen ziehen und angemessene Präventions- und Sicherheitsmaßnahmen entwickeln zu können. Panikmache und die Verbreitung unbegründeter Ängste sind jedoch kontraproduktiv.
Die Diskussionsteilnehmer betonten abschließend die Bedeutung von Selbstverteidigung und Selbstbehauptung als wichtige Bausteine für die persönliche Sicherheit, ohne dabei die Notwendigkeit professioneller Hilfe in bestimmten Situationen, wie beispielsweise häuslicher Gewalt, zu vernachlässigen.